afrikanische Völker: Ihre spirituelle Welt

afrikanische Völker: Ihre spirituelle Welt
afrikanische Völker: Ihre spirituelle Welt
 
Die traditionellen afrikanischen Religionen zeichnen sich durch ein Schöpferwesen, unterschiedliche Geister, den Glauben an ein Weiterleben jenseits des Todes, an den Einfluss der Ahnen auf das Alltagsleben und an die Existenz niederer Mächte und Kräfte aus. Nicht alle diese Mächte gelten als dem Menschen immer wohlgesinnt. Ein gläubiger Anhänger einer traditionellen afrikanischen Religion wird deshalb immer bestrebt sein, auf all diese Wesen und Kräfte im religiösen Vollzug Einfluss zu nehmen, um sie günstig zu stimmen. Das Schöpferwesen ist in dieser Weltanschauung mehr eine rationale Kategorie, die dazu dient, die Existenz der Welt, der Menschen, Tiere und Pflanzen zu erklären. Man kann das höchste Wesen »Gott« nennen, es unterscheidet sich jedoch sehr von der christlichen oder islamischen Gottesvorstellung. Während für diese Religionen »Gott« gleichzeitig weltimmanentes und welttranszendentes Wesen ist, gleicht das afrikanische Schöpferwesen eher einem »Deus otiosus«, das heißt einem Gott, der die Welt ins Dasein setzt und dann nur mehr sporadisch ins Weltgeschehen eingreift. Opfer an die Schöpfergottheiten sind in Afrika selten bezeugt. Sie setzen die Menschen ins Dasein und lassen sie am Ende wieder sterben. Was sich zwischen Geburt und Tod abspielt, ist die Aufgabe dynamischer, untergeordneter Mächte. Den religiösen Alltag beherrschen die Ahnen, die Geister und die Fetische.
 
Der Ahnenkult in Schwarzafrika ist eine religiöse Angelegenheit, die allerdings im sozialen Bereich ihren Ursprung hat. Er kann nicht mit der Verehrung der Toten gleichgesetzt werden. Vor allem in Reichen mit langen Königsgenealogien wurde der Kult der Königsahnen zur offiziellen Staatsreligion. Im Reich der Kuba im Westen der heutigen Demokratischen Republik Kongo wurden sogar nur die Königsahnen verehrt. Jeder Afrikaner und jede Afrikanerin haben zwar das Ziel, einmal Ahn beziehungsweise Ahnin zu werden, aber nicht alle erreichen dieses Ziel. Es gibt eine Reihe von Voraussetzungen, die ein Anwärter auf den Ahnenstatus erfüllen muss. Man sollte den Übergangsritus des Todes vollzogen und bereits im diesseitigen Leben eine hohe Sozialposition innegehabt haben. Außerdem muss man harmonisch mit den eigenen Nachkommen gelebt haben und eines natürlichen Todes gestorben sein. Tod durch Selbstmord, Unfall oder ansteckende Krankheit verhindern den Ahnenstatus. Da die afrikanische Gesellschaft immer nach dem Alter hierarchisiert ist, steht der Ältere sozial stets über dem Jüngeren. Je näher jemand dem Ursprung ist, desto mehr Lebenskraft hat er. Der Urahn ist dieser Auffassung gemäß die Quelle der Lebenskraft. Er wird meist als mythisch-mystische Persönlichkeit mit übermenschlichen Kräften betrachtet. Die Verehrung der Ahnen ist deshalb auch immer gleichzeitig ein religiöser Akt.
 
Neben den Ahnengeistern gibt es noch zahlreiche Naturgeister wie etwa den Herrn der Tiere. Ihm gehören alles Wild, die Wälder und die Savannen. Auch für die Reinerhaltung der Erde kann er zuständig sein. Ein Angehöriger des am längsten in einem bestimmten Gebiet ansässigen Klans übt in der Regel das Priesteramt des Herrn der Tiere aus. Er hat wichtige, religiös begründete Aufgaben bei der Jagd und dem Bau von Häusern zu übernehmen, um das Gelingen zu gewährleisten. Wenn die Erde durch Blut befleckt oder Inzest verübt wurde, muss der Priester des Herrn der Tiere — oder in anderen Gegenden Afrikas auch der Priester des Herrn der Erde — die nötigen Reinigungsriten vollziehen.
 
In zahlreichen afrikanischen Reichen haben die politischen Machthaber nicht auch zugleich die Rechte über die Erde und das Wild. Im alten Kongoreich - seine Blüte hatte es zu Beginn des 16. Jahrhunderts - mussten die einst von den Kongo unterworfenen Ambunda die Großhäuptlinge und sogar den König erst in ihre Ämter einsetzen, damit deren Herrschaft legitim wurde und Erde, Menschen und Tiere nicht unfruchtbar wurden. Die politische Herrschaft erstreckte sich nur auf die Menschen, nicht aber auf die Erde und ihre Geister. Diese Weltanschauung ließ auch nicht zu, dass europäische Kolonialmächte in den Augen der Afrikaner legitime Machthaber wurden.
 
Den größten Raum im religiösen Alltag Schwarzafrikas nehmen zweifellos die Fetische ein. Man kann den Fetisch als ein materielles Objekt definieren, in dem eine persönliche Macht, etwa ein Ahnengeist, oder eine unpersönliche Kraft — ähnlich dem polynesischen »Mana« — wohnt. Jedes materielle Objekt kann im Grunde zum Fetisch werden, es muss nur eine außermenschliche Kraft in ihm wohnen. Man kann diese Kraft zur Hilfe aktivieren, indem man ihr ein Opfer darbringt, wie etwa Palmwein oder ein Huhn. Der Fetisch lässt sich zum eigenen Vorteil oder auch zum Schaden anderer verwenden. Da er seine Dienste nicht von der ethischen Gesinnung des Opferers abhängig macht, entsteht ein Verhältnis des »Do-ut-des« (= ich gebe, damit du gibst), das praktisch immer in der Nähe der Magie angesiedelt ist. Auch Amulette und Talismane werden in Afrika sehr zahlreich verwendet. Sie erhalten zu ihrer Aktivierung jedoch keine Opfer. Amulette haben die Aufgabe, das Übel von einer Person fernzuhalten, und Talismane sollen ihrem Besitzer Glück bringen.
 
Prof. Dr. Josef Franz Thiel
 
 
Broszinsky-Schwabe, Edith: Kultur in Schwarzafrika. Geschichte — Tradition — UmbruchIdentität. Köln 1988.
 Fisseha, Girma und Raunig, Walter: Mensch und Geschichte in Äthiopiens Volksmalerei. Innsbruck 1985.
 Kramer, Fritz W.: Der rote Fes. Über Besessenheit und Kunst in Afrika. Frankfurt am Main 1987.
 
Die Kunst der Dogon, herausgegeben von Lorenz Homberger. Ausstellungskatalog Museum Rietberg, Zürich. Zürich 1995.

Universal-Lexikon. 2012.

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